Inwieweit verändert MaaS das Reiseverhalten?

Die ETH Zürich hat sich zusammen mit der SBB in einem von der ETH-Mobilitätsinitiative geförderten Projekt mit dieser Frage auseinandergesetzt.

Mobility as a Service (MaaS)

Mobility-as-a-Service, kurz MaaS, stellt die Nutzung von Verkehrsmitteln in den Mittelpunkt und nicht deren Besitz. Um das Reisen ohne eigenes Privatfahrzeug für die Kund:innen so attraktiv und einfach wie möglich zu machen, integrieren MaaS-Angebote die Reiseplanung und Buchung für verschiedene Fahrzeuge wie E-Scooter, öffentliche Verkehrsmittel und andere Fahrgemeinschaftsangebote in einer einzigen App. Da jedoch Verhaltensdaten fehlen, ist noch unklar, ob und wie MaaS das Reiseverhalten tatsächlich verändert. Gleichzeitig wird die Erhebung und Verarbeitung solcher Daten immer komplexer, da eine Vielzahl relevanter Tracking- und Kontextdatenquellen zur Verfügung steht [1].  

Yumuv

Aus diesem Grund wurde das Projekt “Empirical use and impact analysis of MaaS (EIM)” rund um die Lancierung von yumuv konzipiert. Yumuv ist ein MaaS-Produkt der SBB und von ÖV-Anbietern aus Basel, Bern und Zürich, das die Buchung einer Vielzahl von gemeinschaftlich genutzten Verkehrsmitteln wie E-Scootern oder E-Bikes über eine einzige App mit einer einmaligen Registrierung anbietet.

Zusätzlich bietet yumuv Mobilitätspakete an, welche die Nutzung weiter vereinfachen sollen, indem sie z.B. “60 Minuten Mobilität pro Monat” unabhängig vom Verkehrsmittel oder Anbieter offerieren. Dieses Angebot ist nicht nur preisgünstiger als die realen Kosten, sondern auch die Entsperrungsgebühr ist reduziert (diese ist üblicherweise zu Beginn jeder Nutzung eines Transportmittels zu entrichten).

Die Hauptziele des Projekts waren 1) die Auswirkungen von Mobilitätspaketen auf das Verkehrsverhalten zu untersuchen und 2) die Entwicklung von KI-Anwendungen, welche auf die Bedürfnisse solcher neuartigen Mobilitätsdienstleistungen zugeschnitten sind. Diese KI-Anwendungen sollten insbesondere in der Lage sein, viele verschiedene Datenquellen zu kombinieren, und sowohl speicher- als auch recheneffizient sein.

In einer 3-monatigen Tracking-Studie mit insgesamt 498 Teilnehmenden erhob das Forschungsteam empirische Daten, die den grössten empirischen Datensatz zur MaaS-Nutzung bilden, der bisher erfasst wurde. Die wichtigsten Ergebnisse dieser Studie sind, dass das kombinierte MaaS-Angebot – also das Mobilitätspaket – die Nutzung von E-Scootern und öffentlichen Verkehrsmitteln in Kombination erhöhte [2] und dass die effektive Nachhaltigkeit von gemeinsam genutzten Verkehrsmitteln (insbesondere E-Scootern) stark von den Verkehrsmitteln abhängt, die sie ersetzen [3]. Das Forschungsprojekt wurde von Prof. Martin Raubal, Professor für Geoinformationstechnik am Institut für Kartographie und Geoinformation der ETH Zürich, geleitet. Die Nutzungsanalyse und Untersuchung der Nachhaltigkeit von E-Scootern wurde von Daniel Reck (Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme, ETH Zürich) unter der Leitung von Prof. Kay Axhausen durchgeführt. Methodisch-wissenschaftlich konnte aufgezeigt werden, dass eine graphenbasierte Repräsentation individueller Mobilität (individuelles Mobilitätsprofil als Graph mit besuchten Orten als Knoten und Fahrten als Kanten) rechnerisch effizienter und datenschutzfreundlicher ist als vergleichbare Mobilitätsprofile [4, 5, 6]. Zudem kann die graphenbasierte Repräsentation mit bestehenden graphenbasierten Inferenzmethoden [7] kombiniert werden.

Martin Henry
«Es war sehr aufregend zu sehen, wie alles zusammengeführt werden konnte und wie das Produkt schliesslich im Alltag angewendet wurde.»
Martin Henry
Martin Henry - Mobility Information Engineering Lab (MIE)

Optimale Kombination von Forschung und Praxisanwendung

Henry Martin ist Doktorand am Mobility Information Engineering Lab (MIE), das zur Professur für Geoinformationstechnik an der ETH Zürich gehört. Im Rahmen seiner Doktorarbeit arbeitete er eng mit der SBB zusammen und meint: «Das Spannendste war die Mischung aus Forschung und Praxisanwendung. Die SBB und ihre Partner arbeiteten am App-Design ihres neuen MaaS-Pilotprodukts, während wir parallel dazu das Forschungsprojekt und die Tracking-Studie konzipierten. Es war sehr aufregend zu sehen, wie alles zusammengeführt werden konnte und wie das Produkt schliesslich im Alltag angewendet wurde.» Trotz der Komplexität der Synchronisierung mit der Produktfreigabe und dem zusätzlichen Stakeholder-Management blickt der Wissenschaftler auf eine grossartige Erfahrung zurück: «Für die Verarbeitung und Analyse der Daten bildeten wir ein Team mit Forschern der ETH Zürich und Datenwissenschaftlern der SBB. Ich konnte von ihrer Erfahrung bei der Anwendung von Vorverarbeitungs- und Analysemethoden profitieren (etwas, das in der akademischen Welt oft vernachlässigt wird). Ich wiederum konnte dem SBB-Team helfen, modernste Methoden zu implementieren.»

Erfolgreiche Interaktionen zwischen Forschenden und Umsetzungsteam dank kontinuierlicher Rückmeldungen

Die Datenwissenschaftler Merlin Unterfinger, Jorim Urner und Thomas Hettinger (externe SeiteInnovation, Forschung und Inkubation, SBB AG) verwiesen auf die erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem ETH-Team während des Green-Class-Projekts im Jahr 2017: «Das yumuv-Projekt war in gewisser Weise eine Fortsetzung, nicht inhaltlich, aber methodisch. Wir konnten gewisse Prozesse der Tracking-Studie aus dem Vorgängerprojekt anpassen und weiterentwickeln. Es ist in der Tat sehr erfreulich, wenn erfolgreiche Forschungskooperationen zu Folgeprojekten führen.»

Die SBB blickt ebenfalls auf eine gelungene Zusammenarbeit zurück: «Besonders geschätzt haben wir die ausgezeichnete methodische Kompetenz der Forschungspartner sowie die professionelle Begleitung des gesamten Projekts. Der zeitlich eng getaktete Austausch mit den Experten ermöglichte es uns, in der Anfangsphase des Projekts aktuelle Erkenntnisse aus kürzlich abgeschlossenen und laufenden Projekten weltweit zu berücksichtigen und einzubinden.»

«Wir arbeiteten direkt auf der SBB-internen IT-Infrastruktur zusammen. Dieser Ansatz ermöglichte uns kurze Iterationen mit kontinuierlichem Feedback. Darüber hinaus erwies sich dieser Ansatz als überaus datenschutzfreundlich, da die Daten das Unternehmen der SBB zu keinem Zeitpunkt verlassen mussten und die Zugriffsrechte stets unter Kontrolle waren. Änderungen und Erweiterungen auf beiden Seiten konnten somit sofort und ohne weitere Umwege in die produktiven Datenverarbeitungspipelines eingespielt werden. Während des laufenden Projekts konnten wir die Daten (fast) in Echtzeit verarbeiten und auswerten. Dadurch wurde das Business-Team kontinuierlich mit wertvollen Erkenntnissen über den Status und den Fortschritt des Forschungsprojekts versorgt, welche schliesslich direkt in Entscheidungen für die weitere Entwicklung des Produkts eingebracht werden konnten. Wir waren überrascht, dass Forschungswerkzeuge, welche State-of-the-Art-Methoden implementieren (z.B. das TrackIntel-Framework), für produktive Pipelines eingesetzt werden können und in der Tat gut funktionieren. Wir bedanken uns bei unseren Projektkollegen an der ETH Zürich für die gute Zusammenarbeit und würden uns freuen, diese in einem zukünftigen Projekt fortzusetzen.»

[1] Martin, H., Reck, D.J. & Raubal, M. (2021). Using information and communication technologies to facilitate mobility behaviour change and enable Mobility as a Service. GI_Forum Journal for Geographic Information Science. externe SeiteDOI
[2] Martin, H., Reck, D.J., Axhausen, K.W. & Raubal, M. (2021). ETH Mobility Initiative Project MI-01-19 Empirical use and Impact analysis of MaaS. ETH Zurich. externe SeiteDOI
[3] Reck, D.J., Martin, H. & Axhausen, K.W. (2022). Mode choice, substitution patterns and environmental impacts of shared and personal micro-mobility. Transportation Research Part D: Transport and Environment, 102, 103134. externe SeiteDOI
[4] Martin, H., Perez-Cruz, F. & Raubal, M. (2022). A graph-based representation for human mobility data. (in preparation).
[5] Martin, H., Wiedemann, N., Reck, D.J. & Raubal, M. (2022). Graph based mobility profiling (under review).
[6] Martin, H., Wiedemann N., Suel E., Hong Y. & Xin Y. (2022) Influence of tracking duration on the privacy of individual mobility graphs. 17th International Conference on Location Based Services (LBS 2022). externe SeiteDOI
[7] Wiedemann, N., Martin, H. & Raubal, M. (2022). Unlocking social network analysis methods for studying human mobility. AGILE: GIScience Series, 3, 1-12. externe SeiteDOI

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert